Geschichte einer Familie – Geschichte eines Landes
von Andrea Wisotzki
Geschichte einer Familie – Geschichte eines Landes
Francesca Melandri gelingt mit ihrem Roman „Sangue giusto“, erschienen 2017 bei Rizzoli Libri, weit mehr als ein Familienporträt. Sie zeichnet ein Bild Italiens des 20. Jahrhunderts, vor dessen Hintergrund die heutigen politischen Entwicklungen bitterer scheinen denn je.
Wer sich die italienische Lektüre noch nicht zutraut: Die deutsche Übersetzung erschien 2018 unter dem Titel „Alle, außer mir“ im Wagenbach Verlag.
Die Protagonistin Ilaria Profeti staunt nicht schlecht, als sie auf der Treppe zu ihrer Wohnungstür einen jungen Afrikaner trifft, der behauptet ihr Neffe zu sein. Hat ihr Vater Attilio Profeti etwa all die Jahre einen unehelichen Sohn in Afrika verheimlicht? Ihn selbst kann sie nicht mehr fragen, der mittlerweile 95-jährige ist an Alzheimer erkrankt und zunehmend in einer Welt gefangen, zu der selbst seine Tochter immer weniger Zutritt hat. Es wäre allerdings nicht das erste Mal, dass die Familie durch ein uneheliches Kind des Vaters Zuwachs erhält, und so begibt sich Ilaria mit ihrem jüngsten Bruder Attilio jr. auf Spurensuche. Als sie bei ihren Nachforschungen entdeckt, dass ihr Vater in Äthiopien einen faschistischen Rassenforscher in seinen Studien unterstützt und Fotos aufbewahrt hat, die den Giftgaseinsatz italienischer Truppen am Völkermord in Äthiopien belegen, beginnt sie am Bild ihres Vater zu zweifeln.
Die Rahmenhandlung des Romans bildet die Geschichte der Geschwister und der Wahrheitssuche um den jungen Afrikaner Shimeta. Nicht zufällig platziert die Autorin diese ins Jahr 2010 zur Zeit eines Staatsbesuches des libyschen Diktators Gaddafis in Rom. Müssen sich doch die europäischen Regierungen bei dem Abkommen mit Gaddafi zum „Schutz“ ihrer Außengrenzen vor afrikanischen Flüchtlingen die Frage nach ihrer Moral gefallen lassen. Hinzu kommt der politische Skandal um Berlusconi und seine „Bunga Bunga-Partys“, der im selben Jahr aufgedeckt wurde.
Durch das Mittel der Rückblenden und Perspektivwechsel bedient sich die Autorin der Möglichkeit eben nicht nur die Lebensgeschichte Attilio Profetis zu erzählen, sondern auch die des italienischen Faschismus und Kolonialismus. Die eingeführten Figuren und deren Sichtweisen liefern Bruchstücke, die sich zu einem Bild zusammensetzen, welches die Doppelmoral der europäischen Kolonialgeschichte und der Beziehungen zu Afrika aufzeigt.
Prägend ist das Bild junger italienischer Soldaten, die im Namen des Faschismus Äthiopien erobern, deren Vaterlandstreue allerdings nicht soweit reicht, als dass sie sich nicht mit einer Afrikanerin, einer Frau der „niederen“ Rasse einlassen würden. Wie viele Kinder geboren werden, die dank der späteren Rassengesetze nicht den Status Sangue giusto bekommen, bleibt offen. Wurde doch ein nicht unbedeutender Teil ihrer Wurzeln und Identität stets verleugnet.
Von Faschistischen und Moralisten – aber vor allem Opportunisten
Wir begleiten eine Heldin, mit deren politisch korrekten Ansichten wir uns alle nur zu gern identifizieren. Um sich innerlich ein wenig zurück lehnen und die gesellschaftlichen Entwicklungen mit „Alle, außer mir“ kommentieren zu können.
Ilaria Profeti wird von ihrer Familie als „moralische Instanz“ oft aufgezogen. Selbst zu ihrer großen Liebe hält sie Distanz, bevorzugt ein Leben als Single, weil dieser in Berlusconis Partei als Abgeordneter Karriere macht.
Wie sehr muss sie der Verdacht bewegen, dass ihr Vater ein überzeugter Faschist und Kriegsverbrecher gewesen sein könnte. Ist es am Ende vielleicht eben diese moralische Überzeugung etwas wiedergutmachen zu müssen, die sie dazu antreibt Shimeta zu helfen? Schließlich ist es auch dieser unbedingte Wille zu helfen, der sie gegen ihre Moral verstoßen lässt: Es sind die politischen Kontakte ihres Freundes, die zur Lösung der Geschichte beitragen.
Die Wahrheit über Attilio Profeti ist in der Tat viel profaner. Einer seiner alten Kameraden fasst es am Ende des Buches zusammen: „Tuo papá era un uomo molto fortunato“.
Profeti war schlicht ein Glückspilz. Schon in jungen Jahren war er ein sehr charismatischer Mann, dem die Frauen zu Füßen lagen und der wusste, wie er die Gunst der Stunde nutzen konnte. Durch seine Fürsprecher und glückliche Umstände verbrachte er nicht viel Zeit an der Front. Statt selbst Zeitzeuge italienischer Kriegsverbrechen zu werden fristete er sein Dasein in der Poststelle und zensierte Briefe der Soldaten an die Heimat. Alle starben im Krieg – alle außer Attilio Profeti.
Von diesen Figuren gibt es viele im Buch: Weniger überzeugte Faschisten oder Anhänger Berlusconis, als viel mehr Menschen, die sich mit dem System arrangieren, die Möglichkeiten nutzen, das Beste für sich rauszuschlagen. Die Gefallen schuldig sind und selbst Gefallen einfordern.
Historisch und doch aktuell wie nie
Die Geschichte ist universell lesbar, sie ist nicht rein italienisch, sondern in gewisser Weise eine europäische: Es geht um die Aufarbeitung des Kolonialismus, des Faschismus und des europäischen Herrenklasse-Denkens, das uns über Jahrhunderte kulturhistorisch geprägt hat. Bezeichnend ist hier die Szene, in der Ilaria die Bilder des faschistischen Rassenforschers Lidio Ciprani wiedererkennt – als dieselben aus ihrem Geografiebuch, mit welchem noch in den Schulen der 1970er Jahre unterrichtet wurde.
Ebenso europäisch ist die Geschichte des jungen Flüchtlings Shimeta, die die historische Dimension des Romans wunderbar mit aktuellen politischen Debatten und Entwicklungen verknüpft. Die Passage, in der Shimeta von seiner Flucht aus Afrika berichtet, von Massakern, bezahlten Schleppern, in der Wüste ausgesetzten Personen und libyschen Foltergefängnissen, ist die berührendste des ganzen Buches. Man möchte sie so manchem Populisten unserer Zeit zu lesen geben.
Für diejenigen, die das italienische Original lesen wollen: Der Roman ist sprachlich anspruchsvoll, gerade die verschiedenen Perspektivwechsel, lassen Nicht-Muttersprachler zu Beginn etwas stolpern.